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Porträt / Für Hauptstadt - 16.09.2024

Wenn die Wirklichkeit nicht alles ist

In seinem neuen Solotheater bringt der Schauspieler Marco Michel Szenen aus dem Leben von Chlöisu Friedli auf die Bühne. Dabei entführt er das Publikum in die Innenwelt des Berner Bluesmusikers, wo Realität und Fantasie miteinander verschmelzen.

Aus einem Raum am Ende des langen Flurs im dritten Stock des PROGR in Bern hallen die letzten Töne vom «Sünneli-Blues» wider. Am Klavier sitzt Marco Michel. Der Berner Schauspieler ist in den Endproben für sein neues Solostück «CHLÖISU – die Wirklichkeit ist nicht alles», das dem verstorbenen Bluesmusiker Chlöisu Friedli gewidmet ist. Der «Sünneli-Blues» ist eines von vier Liedern, die er in seiner Rolle zum Besten geben wird; dafür übt er seit einem Jahr fast täglich: «Beim Talking-Blues wird frei über einen Rhythmus gesprochen, was gar nicht so einfach ist», erklärt er, klappt den Klavierdeckel zu und fügt lachend an: «Noch übe ich, aber an der Premiere werde ich bereit sein.»

Ein Leben voller Widersprüche

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Marco Michel kennt die Musik von Chlöisu Friedli schon seit seiner Jugend. Bereits damals gefiel ihm, dass sich die Lieder deutlich von denen anderer Berner Liedermacher der 70er-Jahre unterschieden: «In seiner Musik behandelt Chlöisu Friedli ernste Themen wie seine psychische Krankheit auf eine prägnante, humorvolle Weise. Dieser Widerspruch fasziniert mich bis heute», sagt Marco Michel, während er sich aus einer Thermoskanne Fencheltee einschenkt. Die Idee, ein Theaterstück über den Musiker zu schreiben, kam ihm bereits vor einigen Jahren. Als er dann intensiver zu recherchieren begann, nahm das Projekt allmählich Gestalt an. In der Folge führte Marco Michel zahlreiche Gespräche mit Angehörigen, Freunden und Bekannten von Chlöisu Friedli. Dazu gehörten neben Familienmitgliedern auch der Aufnahmeleiter von Friedlis einzigem Album sowie ein Psychiater aus den Universitären Psychiatrischen Diensten der Waldau, wo der Musiker einige Zeit verbracht hatte. Durch die vielfältigen Erzählungen, Geschichten und Fakten sammelte Marco Michel eine Fülle unterschiedlicher Perspektiven auf Friedlis Persönlichkeit und sein Leben. Daraus entwickelte er schliesslich die Geschichte für sein Stück. «Am Ende hatte ich sehr viel Material, und es war eine Herausforderung, dieses zu sortieren, zu filtern und daraus einen Handlungsstrang zu bauen», erzählt Marco Michel, der unter anderem in München Schauspiel studiert hat.

Zwischen Realität und Fiktion

Während des gesamten Entstehungsprozesses stand Marco Michel in engem Austausch mit den Angehörigen von Chlöisu Friedli und stimmte auch die verschiedenen Textfassungen sorgfältig mit ihnen ab: «Mir war es wichtig, der Person Chlöisu Friedli gerecht zu werden, obwohl die Figur in meinem Stück fiktiv ist. Das war stets eine Gratwanderung.» Chlöisu Friedli verknüpfte in seinen Songtexten oft scheinbar unpassende Bilder und sprang von einem Gedanken zum nächsten. Für Marco Michel war schnell klar, dass er dieses assoziative Element des Musikers auch in seinem Stück aufgreifen wollte – nicht nur im Text, sondern auch im Bühnenbild: «Die Schwierigkeit bestand darin, dem Publikum einerseits eine Projektionsfläche zu bieten, die genug Assoziationsmöglichkeiten gibt und gleichzeitig nicht alles völlig offenlässt», erklärt der 39-jährige. Mit grossen Schritten geht er durch die Pappkartons, die für die Proben im Raum verteilt sind und demonstriert, wie diese im Stück immer wieder ihre Form und Funktion verändern.

Eintauchen in das Innenleben

«CHLÖISU» ist bereits das zweite Solotheater von Marco Michel. Mit seinem ersten Stück «EIN KUSS» über den schweizerisch-italienischen Maler Antonio Ligabue, stand er schon über 125-mal auf der Bühne und wurde dafür mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Der Erfolg bringt allerdings auch eine gewisse Erwartungshaltung mit sich: «Die Erwartungen an ‘CHLÖISU’ sind hoch und ich versuche, diesen Druck entweder zu ignorieren oder ihn als Motivation zu nutzen», sagt Marco Michel. Mit seinem neuen Stück möchte er eine Innenwelt sichtbar machen, die der Protagonist selbst nur selten ausdrücken konnte. «Ich hoffe, das Publikum in die Höhen und Tiefen von Chlöisu Friedli eintauchen lassen zu können», sagt Marco Michel und fügt nach einer kurzen Pause lächelnd hinzu: «Und dass mir die Klavierstücke gelingen.»