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Reportage / Für das Magazin "Gesundheit Emmental" - 01.06.2023

«Plötzlich war da ein Schlauch»

Ein einziger Moment kann alles verändern. So erlebte es auch Leonie Gerber*: Sie fuhr mit starken Unterleibsschmerzen notfallmässig ins Spital – und musste dann auf einmal mit einem Nierenkatheter leben. In dieser ungewohnten Situation war die Spitex für Sie eine wichtige Stütze.

«Zu jeder Wunde gehört ein Mensch», sagt Jörg Muster, Wundexperte bei der Spitex Burgdorf-Oberburg.
«Zu jeder Wunde gehört ein Mensch», sagt Jörg Muster, Wundexperte bei der Spitex Burgdorf-Oberburg.

Draussen regnet es in Strömen und die Tropfen prasseln laut gegen das Fenster, als Leonie Gerber das Behandlungszimmer in den Räumlichkeiten der Spitex Burgdorf-Oberburg betritt. Herzlich begrüsst sie Jürg Muster und nimmt sogleich auf der Liege Platz. Der Wundexperte hat schon alles vorbereitet: Auf einem kleinen Tisch befinden sich frisches Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel. Während Jürg Muster sanft den Verband seitlich an ihrem Bauch entfernt, beginnt Leonie Gerber zu erzählen. Von diesem Moment Mitte Dezember, der ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Wegen Schmerzen im Unterleib musste sie notfallmässig ins Spital. Bei einer gründlichen Untersuchung hat man festgestellt, dass der Harnweg zwischen der linken Niere und ihrer Blase blockiert war. Die Niere hatte sich deshalb mit Harnflüssigkeit gefüllt. Nebst grossen Schmerzen kann dies dazu führen, dass das Nierengewebe Schaden nimmt. «Im schlimmsten Fall hätte es zu einer Blutvergiftung oder gar einem Nierenversagen kommen können», weiss die 45-jährige. Bereits am nächsten Tag wurde sie deshalb operiert. Die Ärzte wollten den verschlossenen Harnweg mit einer Harnleiterschiene freimachen, damit die Flüssigkeit wieder ablaufen kann. Während der Operation stellte sich aber heraus, dass die Bedingungen dafür schwieriger waren als angenommen und Leonie Gerber erwachte mit einer perkutanen – was so viel bedeutet wie «durch die Haut hindurch» – Nephrostomie aus der Vollnarkose. Dabei wird ein künstlicher Ausgang mit einem Schlauch zur Ableitung des Urins aus der Niere in einen Auffangbeutel angelegt.

Schmerzen, Operationen und Fortschritte

Für die lebenslustige Frau ein Schock. Sie hatte Mühe damit, diesen Fremdkörper zu akzeptieren und fühlte sich nicht mehr wohl. «Plötzlich war da ein Schlauch, der an meine Haut angenäht war und der direkt in meine Niere führte.» Ihre Wunde schmerzte zu Beginn stark, sie wollte sie nicht ansehen, konnte nicht einmal darüber sprechen. In dieser Situation haben die Mitarbeitenden der Spitex verständnisvoll und professionell reagiert: «Sie haben meine Bedürfnisse sehr ernst genommen, haben mir zugehört und konnten mir dadurch auch meine Angst vor dem Katheter nehmen.» Ende Januar wurde Leonie Gerber dann ein zweites Mal operiert. Dabei konnte ein sogenannter Endopyelotomie-Stent zwischen Blase und Niere eingebracht werden. Dieser blieb während sechs Wochen drin, um den Kanal zu vergrössern. Während dieser Zeit lief der Urin Spontan in die Blase ab. Kurz nachdem der Stent entfernt wurde, kam aber die Ernüchterung: Die Flüssigkeit konnte erneut nicht ablaufen. Es folgte eine dritte Operation und eine neue Harnleiterschiene, die sie in einigen Wochen entfernen kann. Durch diese Schiene soll der Harnleiter den Urinabfluss gewährleisten – bis zur notwendigen operativen Harnleiterrekonstruktion. Die vielen Eingriffe zerrten an den Nerven, aber immerhin braucht Leonie Gerber den künstlichen Ausgang nun nicht mehr jeden Tag und kann den Nephrostomiekatheter vermehrt mit einem Deckel verschliessen, ohne dass ein Urinbeutel angebracht ist.

Neue Blickwinkel und gute Perspektiven

Mittlerweile hat Jürg Muster die Wunde desinfiziert. Zweimal pro Woche wird der Verband von Leonie Gerber gewechselt. Dabei beobachten die Mitarbeitenden der Spitex die Wunde jeweils genau und versorgen sie sachkundig. Weil der Schlauch durch die Öffnung direkt mit der Niere verbunden ist, muss besonders darauf geachtet werden, dass sich keine Bakterien bilden. «Die Wunde darf auf keinen Fall feucht werden und braucht einen trockenen, luftdurchlässigen Verband», erklärt der Fachmann. Damit Leonie Gerber trotzdem unter die Dusche kann, deckt sie die Wunde mit einer grossen Folie ab.

Mittlerweile habe ich mich schon fast daran gewöhnt, nur noch zweimal pro Woche richtig duschen zu können.

Leonie Gerber

Diese muss am Tag des Verbandswechsels jeweils wieder entfernt werden. «Mittlerweile habe ich mich schon fast daran gewöhnt, nur noch zweimal pro Woche richtig duschen zu können. Man lernt, die kleinen Dinge zu schätzen», sagt sie und lacht. Für den Verbandswechsel kommt Leonie Gerber zum Standort der Spitex Burgdorf-Oberburg in der Nähe des Bahnhofs. Weil sie voll berufstätig ist, sei das für sie praktischer. «Ich bin dankbar, dass die Spitex so flexibel ist.» Zu ihrer Nephrostomie hat Leonie Gerber mittlerweile ein besseres Verhältnis. «Ich habe gelernt, damit umzugehen und es hilft mir, wenn der Urin auf natürlichem Weg nicht abfliessen kann.» Gemäss den Ärzten wird Leonie Gerber aber ziemlich sicher schon bald wieder ganz ohne künstlichen Ausgang auskommen. In einigen Wochen ist der operative Eingriff im laparoskopischen Verfahren eingeplant. Bei diesem wird ein optisches Instrument mit Lichtquelle und Kamera über einen kleinen Hautschnitt in den Bauchraum eingeführt. Dabei wird die Verengung des Harnleiters abgetrennt und der verkürzte Harnleiter neu in die Blase eingelegt. Danach sollten auch die Harnleiterschiene und die Nephrostomie entfernt werden können. Auch dieser Moment wird Leonie Gerbers Leben verändern – diesmal aber im positiven Sinne.

*Name geändert