Lesen

Referenzen

Reportage / Für die Sonderbeilage in der "Berner Zeitung BZ" und in "Der Bund"

Körper, Geist und Seele tanzen

Wenn Seniorinnen und Senioren tanzen, trainieren sie das Gehirn, mobilisieren die Gelenke und lernen die Empfindsamkeit des eigenen Körpers schätzen. Tanzen ist mehr als eine Schrittabfolge. Das zeigt der Besuch in einem Studio.

Der Raum in Münsingen bei Bern ist hell und die Fenster sind weit geöffnet. Ein Lüftlein weht, ein Windspiel klingelt. Andrea Berchtold sitzt am Boden und trifft die letzten Vorbereitungen für die heutige Tanzstunde. Ihre Stunden plant sie immer nach einem bestimmten Thema: «Die Schwerpunkte wähle ich durch Beobachtung – ich lese die Bedürfnisse der Kursteilnehmenden durch ihren Körper», erzählt die studierte Tanzpädagogin, die seit 2016 Tanzkurse für Seniorinnen und Senioren anbietet. So versuche sie beispielsweise zu sehen, welche Körperteile mobilisiert werden müssen und überlege sich dann, wie sich die Gruppe gemeinsam damit auseinandersetzen könnte. «Wir arbeiten unter anderem daran, das Gewicht auf verschiedene Gelenke zu verteilen und nicht nur auf die Knie, mit denen ja gerade viele ältere Menschen Probleme haben.»

Freie Bewegungen vs. klare Schrittfolgen

Nebst dem körperlichen Wohlbefinden unterstützt der Tanz auch das Sozialleben: Die Kursteilnehmenden bei Andrea Berchtold kennen sich schon lange und treffen sich oft auch ausserhalb der Stunde.
Nebst dem körperlichen Wohlbefinden unterstützt der Tanz auch das Sozialleben: Die Kursteilnehmenden bei Andrea Berchtold kennen sich schon lange und treffen sich oft auch ausserhalb der Stunde.

Langsam füllt sich der Raum. Schwatzend und lachend treten nacheinander die Kursteilnehmenden ein: Vier Frauen und zwei Männer, alle im Alter zwischen 65 und 78 Jahren. Die Stunde beginnt mit einigen Aufwärmübungen zuerst in einem Kreis in der Mitte des Raums. Danach werden die Bewegungen grösser: «Die Füsse sind fest im Boden verankert, wie bei einem Katamaran, der Oberkörper ist das Segel, das sich hin und her bewegt», weist Andrea Berchtold die Teilnehmer an. Ihre Tanzstunden sind geprägt von freien Bewegungen, nur selten gebe sie genaue Abläufe vor. «Klare Schrittfolgen zu üben kann die Menschen zwar kognitiv unterstützen, andererseits kann es aber auch Stress auslösen.» Wenn man sich nur noch auf die Schritte konzentrieren müsse, spüre man den Körper nicht mehr. Genau das ist Andrea Berchtold aber wichtig. Die – auch geistige –Herausforderung liegt in ihren Stunden deshalb beispielsweise darin, gewisse Bewegungsabläufe von einer anderen Person zu übernehmen. Heute bilden sich dafür Zweiergruppen und jede Gruppe erhält einen Holzstab. «Der Stab ist eure Verbindung, die eine Person führt, die andere geht mit der Bewegung mit», erklärt Andrea Berchtold. So tanzen die Duos leichtfüssig aneinander vorbei, mal schneller, dann wieder langsam. Zum Ende der Stunde hin bewegt sich die ganze Gruppe gemeinsam durch den Raum, alle passen die Bewegungen einander an und tanzen miteinander, fast wie ein Schwarm Zugvögel in der Luft – bis die Musik zu Ende ist.

Empfindsamkeit und Geduld

Ihr Interesse am Tanz mit älteren Menschen, entdeckte Andrea Berchtold während ihrer professionellen Tanzausbildung. Diese hat die studierte Tanzpädagogin relativ spät absolviert: «Ich war 50 Jahre alt und mit Abstand die älteste, alle anderen Studierenden waren Anfang 20», erzählt sie und lacht. Dadurch habe sie gemerkt, wie gross die Unterschiede zwischen jungen und älteren Tänzern sind: «Die Jungen bewegen sich viel, schnell und intensiv. Bei älteren Menschen wird der Tanz subtiler», erzählt Andrea Berchtold, die ihre Aus- und Weiterbildungen in der Schweiz, Deutschland, England und Australien gemacht hat. Manchmal schwinde mit zunehmendem Alter auch das Vertrauen in den Körper, man werde fragiler. «Ich versuche meinen Kursteilnehmenden zu vermitteln, dass diese Empfindsamkeit auch bereichernd sein kann: Ältere Menschen nehmen simple Bewegungen intensiver wahr und haben die Geduld, durch diese einfachen Bewegungen eine Verbindung zum eigenen Körper herzustellen.»