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Porträt / Für kleinstadt.ch - 11.05.2022

«Kinder sind lustiger»

Seit 21 Jahren arbeitet Yann Brilland als Betreuer bei der Kita «Roti Zora» im Berner Breitenrainquartier. Er pfeift auf Rollenbilder, liebt seine Arbeit und ist selber zum Vorbild geworden.

Yann Brilland 2

Yann Brilland (50) steht vor der Tür der Kita «Roti Zora» auf dem Spielplatz am Schützenweg, neben ihm ein Veloanhänger, vollgepackt mit Gummistiefel, Kinderjacken und Regenhosen. «Matteo, Uma, Anna – mir gö!» ruft er mit seiner sonoren Stimme in Richtung Sandkasten. Dann macht er sich zusammen mit zwei weiteren Betreuerinnen und acht Kindern auf den Weg – runter an die Aare, zum Längmuur-Spielplatz. Seit gut einem Jahr bietet die «Roti Zora» Nachmittagsbetreuung an. Weil aber die Räumlichkeiten jeweils ab 14 Uhr vom Verein des Spielplatzes gebraucht werden, hat die Kita einen ausrangierten Zirkuswagen liebevoll renoviert und auf dem Längmuur-Spili untergebracht. So gehört der tägliche Spaziergang mit den Kindern vom Breitenrain in den Altenberg mittlerweile zum festen Programm der Kita. Auf dem Weg durch die Quartierstrassen beginnt Yann von sich zu erzählen. Aufgewachsen ist er in Paris, «dans le 13ème.» Bereits mit 15 Jahren hat er angefangen, im Quartier auf andere Kinder aufzupassen und während seinem Studium in klassischer Philosophie begann er in einer Tagesschule zu arbeiten. «Die Massstäbe in französischen Tagesschulen sind anders als in der Schweiz; wir waren im Schnitt drei Betreuer auf 50 Kinder bis 7-jährig», erinnert sich Yann zurück und erklärt: «In Frankreich gehen alle Kinder ab zweieinhalb Jahren in die Schule und in der Stadt bleibt die Mehrheit der Kinder in der Tagesschule, weil Teilzeitarbeit nicht so verbreitet ist.»

Die Massstäbe in französischen Tagesschulen sind anders als in der Schweiz; wir waren im Schnitt drei Betreuer auf 50 Kinder

Yann Brilland

Anders als in der Schweiz habe es in Frankreich auch schon damals viele Männer gegeben, die in den Tagesschulen gearbeitet haben, er sei dort keine Ausnahme gewesen. Plötzlich beginnt Finn, der kleine Junge der im Velowagen sitzt, zu weinen. «Ah dr Monkey isch usegheit», sagt Yann, geht einige Schritte zurück und hebt den kleinen Plüschaffen vom Trottoir auf.

Vorurteile und Kritik

Yann Brilland

Als sich Yann und seine Frau Anja vor 26 Jahren entschieden, eine Familie zu gründen, zogen sie nach Bern, wo Anjas Schwester mit ihrer Familie lebte. «Mein Neffe besuchte damals eine etwas unkonventionelle Spielgruppe, deren Konzept mich begeistert hat – gerade auch im Vergleich zu den französischen Tagesschulen», erzählt Yann. Ihr Entschluss war gefasst: Sie wollten auch in Bern leben und ihre zukünftigen Kinder hier gross ziehen. Zuerst arbeitete Yann bei einem Kinderhütedienst in Köniz, danach absolvierte er die Ausbildung zum Spielgruppenleiter und konnte auf dem Längmuur Spielplatz bei der Kinderwerkstatt arbeiten. Nur wenig später begann er bei der Kita «Roti Zora». Anders als in Frankreich, war er als Mann hier in diesem Beruf klar in der Unterzahl. Während der Ausbildung und in Weiterbildungen habe er das auch zu spüren bekommen – vor allem von Betreuerinnen aus anderen Kitas oder Spielgruppen. «Während einer Weiterbildung zum Thema "Männer in der Kinderbetreuung" sagte eine Kita-Leiterin, dass sie sich nicht vorstellen könne, dass die Eltern ein Mann bei ihr im Team akzeptieren würden», erzählt Yann. Und einmal sei er gar gefragt worden, ob er als Mann denn überhaupt Kinder betreuen dürfe.

Wie tief die Rollenbilder in den Köpfen verankert sind, merkte Yann vor allem im Privaten.

In der Kita «Roti Zora» hingegen sei das Thema nie ein Problem gewesen: «Bei uns galt von Anfang an, also seit 1988 der Grundsatz, dass immer mindestens ein Mann und eine Frau die Kinder betreuen», erklärt Yann. Und auch bei den Eltern sei der Fakt, dass er als Mann ihre Kinder betreue, noch nie kritisiert worden. Wie tief die Rollenbilder in den Köpfen verankert sind, merkte Yann vor allem im Privaten. Weil er lange Teilzeit arbeitete und sich daneben um die beiden Söhne und um den Haushalt kümmerte und Anja die Hauptverdienerin der Familie war, hatten beide mit Vorurteilen zu kämpfen: «Sie war die Rabenmutter, die nicht für ihre Kinder da ist, ich kein richtiger Mann, weil ich keine typische Karriere vorzuweisen hatte», erzählt Yann, während er den Velowagen über den Altenbergsteg schiebt.

Die Berufswahl ist freier geworden

Heute steigen zwar deutlich mehr junge Männer in den Beruf als Kinderbetreuer ein, trotzdem sind gemäss dem Verband Kinderbetreuung Schweiz (kibesuisse) aber noch immer nur gerade acht Prozent des Personals in der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung in der Schweiz Männer. Im Vorschulbereich sind es noch weniger. Aber das Berufsbild habe sich verändert, findet Yann. Er habe beobachtet, dass es mittlerweile für viele junge Männer eine - auch vom Umfeld - akzeptierte Option ist, den Beruf des Kleinkinderziehers zu wählen. «Ich finde es sehr schön, dass die jungen Leute freier geworden sind in ihrer Berufswahl und sich die stereotypen langsam aufweichen.» Für Yann selber ist die Arbeit mit den Kindern auch nach über 21 Jahren noch immer sehr erfüllend. «Die Erwachsenen finde ich meistens ziemlich langweilig», sagt er und schmunzelt. «Die Erwachsenenthemen sind ja doch meistens sehr… konventionell. Klar, es gibt ja zum Glück auch humorvolle und poetische Erwachsene. Aber im poetischen sind Kinder noch viel freier, sie haben ihre eigene Welt und ich finde, dass ihre Abstraktion die Welt viel lustiger macht», sagt Yann und geht mit den Kindern davon, Richtung Spielplatz.