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Erfahrungsbericht / Für das Geburtshaus "Le Petit Prince" - 14.09.2021

Hebammengeschichten aus Calais

Pia Milani arbeitet seit sechs Jahren als Hebamme im Geburtshaus. Zweimal hat es sie auch ins Ausland gezogen, wo sie sich für Frauen in Not eingesetzt hat. Im Herbst 2019 engagierte sie sich für zwei Wochen in einem Flüchtlingslager in Calais, an der nordfranzösischen Küste. Uns hat sie von ihren Erlebnissen dort erzählt.

"Ich reiste in meinen Herbstferien für die Hilfsorganisation "Gynécologues sans frontières" nach Calais. Gemeinsam mit drei anderen Hebammen wohnte ich in einem kleinen Haus am Rand der Stadt. Jeden Tag gingen wir mit dem Auto auf eine Tour, aus Sicherheitsgründen immer zu zweit. Wir waren in zwei verschiedenen Flüchtlingslagern unterwegs. Einerseits besuchten wir ein Lager in einem ehemaligen Gymnasium, wo die "wohlhabenderen" Flüchtlinge untergebracht waren - vor allem Kriegsflüchtlinge vor allem Kurdinnen und Kurden aus Syrien, Irak und der Türkei aber auch Personen aus Afghanistan - die sich einen Schlepper leisten konnten. Dort waren in einer grossen Turnhalle viele Familien untergebracht, jede hatte ihren eigenen, kleinen Bereich, der am Boden markiert war. Die Verhältnisse waren eng, aber immerhin hatten diese Menschen ein Dach über dem Kopf und einen gewissen Schutz.

Vor allem im "Dschungel" gab es auch sehr junge Frauen, die nach einem Missbrauch auf dem Weg nach Europa schwanger wurden.

Pia Milani

Die ärmeren Flüchtlinge andererseits – meist aus Afrika herkommend - lebten im sogenannten "Dschungel" von Calais, einem Zeltlager auf einer ehemaligen Mülldeponie. Dort gab es manchmal Messerstechereien oder Schiessereien und regelmässig wurde das Lager von der Polizei geräumt. In solchen Situationen war uns der Zutritt zu den Lagern verboten. Die Menschen von beiden Lagern hatten dasselbe Ziel. Sie alle warteten auf eine Gelegenheit, von Frankreich nach England zu gelangen, wo sie sich ein besseres Leben erhofften.

Medikamente und ein warmes Bett

In den Flüchtlingslagern um Calais sind viele verschiedene Organisationen unterwegs und bringen den Menschen Nahrungsmittel, Kleidung oder Medikamente und vieles mehr. Wir Hebammen waren speziell für die Frauen dort.

Pia Milani setzte sich in Calais für Frauen in Not ein.
Pia Milani setzte sich in Calais für Frauen in Not ein.

Wir hörten uns ihre Geschichte und Sorgen an, behandelten kleinere Bagatellen ("Bobos") und leisteten Verhütungs- und Aufklärungsarbeit. Vor allem im "Dschungel" gab es auch sehr junge Frauen, die nach einem Missbrauch auf dem Weg nach Europa schwanger wurden. Wir berieten diese Frauen im Hinblick auf einen allfälligen Schwangerschaftsabbruch. Allgemein waren wir ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Lager und dem Spital. Ausserdem betrieben wir ein kleines Frauenhaus mit acht Betten. Dort konnten die jungen Frauen, teilweise mit Kleinkindern, nach Anmeldung ein bis zweimal pro Woche übernachten, duschen und ihre Kleider waschen. Jeden Abend holten wir einige Frauen ab und brachten sie am nächsten Morgen wieder zurück ins Lager. Die Fahrt war meistens lustig: Die Frauen kannten sich untereinander, sie freuten sich auf das "Zuhause", machten Spässe und lachten zusammen.

Eine unüberbrückbare Distanz

Zwei Wochen sind kurz – und doch habe ich immer wieder versucht, mir Zeit für die einzelnen Frauen zu nehmen und auf sie einzugehen. Manchmal hatte ich dabei aber das Gefühl, machtlos zu sein, weil es aus kulturellen und sozialen Gründen schwierig war, sie zu erreichen. Einmal habe ich mit einer Frau einen längeren Spaziergang gemacht, wir haben uns lange unterhalten und ich habe ihr Hilfe bei der Suche nach einer juristischen Beratung angeboten. Am nächsten Tag war sie ohne eine Nachricht weg; sie ist wohl einfach untergetaucht. Da wurde mir wieder bewusst, dass diese Menschen auf der Flucht schon so viel erlebt haben, sodass sie oftmals das Vertrauen in andere Personen verloren haben. Das hat mich traurig gestimmt.

Pommes Frites zur Feier des Tages

Es gab aber auch schöne Erlebnisse. Einmal begleiteten wir ein kurdisches Ehepaar aus Syrien zum Ultraschall ins Spital. Das Paar hatte bereits drei Kinder, alles Mädchen. Sie waren glücklich und freuten sich beide sehr auf das Baby. Als ihnen aber der Arzt aufgrund des Ultraschalls mitteilte, dass sie diesmal ein Junge erwarten, waren sie überglücklich und luden uns mit ihrem kleinen Budget auf eine Portion Pommes Frites ein.

Die Gedanken kreisten nachts um die Erlebnisse im Lager.

Pia Milani

In meinen zwei Wochen in Calais habe ich nicht gut geschlafen. Die Gedanken kreisten nachts um die Erlebnisse im Lager, um die Begegnungen mit den vielfältigen Menschen und deren durchwegs schwierigen Situationen. Trotzdem würde ich sofort wieder gehen, denn diese Erfahrung war für mich unglaublich intensiv und wertvoll."