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Porträt / Für Hauptstadt - 17.02.2025

«Die Wahrheit interessiert mich nicht besonders»

In ihrem neuen Roman schildert die mehrfach ausgezeichnete Berner Autorin Meral Kureyshi das Leben und die Freundschaften von Frauen über mehrere Generationen. Ein Gespräch mit der Autorin über Neid, Einsamkeit im Alter und Inspiration.

Foto: Matthias Günther
Foto: Matthias Günther

«Brrr!» – Meral Kureyshi zieht die Schultern hoch und schliesst schwungvoll das grosse Fenster in ihrem Atelierraum im Berner Progr. Durch die Scheiben scheint die grelle Wintersonne auf ihre dunklen Locken. Sie nimmt Platz am grossen Tisch in der Mitte des Raumes. Hier sitzt die Autorin oft wenn sie schreibt. Heute erzählt sie über ihren dritten Roman Im Meer waren wir nie, der am 20. Februar erscheint. In dichter, bildhafter Sprache schildert Meral Kureyshi darin die Geschichte einer Frau, die mit ihrer besten Freundin Sophie und deren Sohn Eric zusammenlebt und Sophies Grossmutter Lilli im Altersheim unterstützt. Die Icherzählerin ringt mit ihrer Entscheidung, in eine entfernte Stadt zu ziehen, hadert mit der zerbröckelnden Freundschaft zu Sophie und der Einsamkeit des Alters. Kurz vor der Veröffentlichung ihres dritten Buches durchlebt auch Meral Kureyshi eine Achterbahn der Gefühle: «Die Palette reicht von Freude und Stolz über Unsicherheit bis hin zu Angst. Ich werde ganz klein und gleichzeitig riesengross», sagt die 41-Jährige.

Am Anfang steht immer ein Empfinden

Gefühle sind bedeutsam für Meral Kureyshi – das merkt man sofort, wenn man mit ihr spricht. Sie empfindet intensiv und erzählt lebendig; mal ausschweifend und laut, dann wieder leise und sanft. Auch beim Schreiben lässt sich Meral Kureyshi von ihren Emotionen leiten: Zu Beginn eines Projekts steht für sie immer ein Gefühl, das sie im Schreiben zu fassen versucht. «Mich interessiert das Ungesagte mehr als das, was passiert», erklärt sie. Irgendwann im Laufe des Schreibprozesses findet sie sich vor mehreren tausend Seiten wieder, die aus Fragmenten von Beobachtungen, Gedanken und Notizen bestehen. Erst aus diesen Eindrücken entsteht nach und nach die Geschichte: «Die eigentliche Arbeit beginnt für mich, wenn ich das Geschriebene reduzieren und die Dramaturgie einbringen muss.»

Mich interessiert das Ungesagte mehr als das, was passiert

Meral Kureyshi

Nach diesem Schritt legt die Autorin das Buch für mehrere Monate beiseite, bevor sie es wieder aufnimmt und fertigstellt. Im Schnitt arbeitet Meral Kureyshi so mindestens fünf Jahre an einem Buch. «Wären die Handlung oder die Figuren von Anfang an klar, würde der Schreibprozess vielleicht schneller von der Hand gehen. Deshalb bin ich auch ein wenig neidisch auf diejenigen, die das so mühelos können», sagt sie und hebt dabei die Augenbrauen.

Das Spiel von Neid und Eifersucht

Neid. Damit sind wir bei einem der Gefühle, dem Meral Kureyshi in ihrem dritten Roman nachspürt. Immer wieder befinden sich die Figuren in wechselnden Dreiecksbeziehungen, in denen der Neid auf zwischenmenschliche Beziehungen und unterschiedliche Familiensituationen oder Lebensentwürfe eine zentrale Rolle spielt. Für Meral Kureyshi geht es dabei um das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses – um Neid als nachahmendes, sogenannt mimetisches Begehren: Man hält einen anderen Lebensstil für erstrebenswert, weil die andere Person ihn so gestaltet hat, dass er uns als lebenswert erscheint, auch wenn er in uns nicht das gleiche auslöst. «Als Kinder wollen wir immer das, was wir nicht haben. Auch im Erwachsenenalter ändert sich das nicht», erklärt sie. Die Autorin betrachtet Neid als etwas, das uns alle in unseren Beziehungen antreibt und spricht das Thema in ihren eigenen Freundschaften offen an: «Das kann auch kulturell bedingt sein, denn im Türkischen ist Neid untrennbarer Teil der Sprache. Man sagt ständig Dinge wie: ‘Ich würde jetzt auch gerne in Urlaub fahren oder hör auf so glücklich zu sein, denn mir geht es nicht gut’», sagt Meral Kureyshi, die in Prizren im Kosovo geboren wurde und 1992 mit ihrer Familie in die Schweiz kam. Und so beleuchtet die Autorin in ihrer Geschichte durch den Neid hindurch auch die Elastizität und Dehnbarkeit einer Freundschaf, bei der trotz einer Trennung am Ende keine schlechten Gefühle bleiben.

Zwischen Inspiration und Wahrheit

In Meral Kureyshis neuem Roman spielt auch das Altersheim eine zentrale Rolle. Deshalb war die Autorin über einen Zeitraum von fünf Jahren immer wieder in unterschiedlichen Heimen, um zu recherchieren und mit den Bewohner:innen zu sprechen. Diese Erfahrung beschreibt sie als faszinierend und erschreckend zugleich. Besonders die Einsamkeit der Menschen hat sie tief berührt: «Dort lebt eine Generation, die so viel durchgemacht hat, so viele Veränderungen erlebt hat und am Ende finden sich diese Menschen alle allein in einem Zimmer wieder», sagt Meral Kureyshi nachdenklich. Erschütternd waren für sie auch die vielen Lebensgeschichten der Frauen im Altersheim, die von physischer und psychischer Gewalt zeugen. ’Das war halt damals so’, war ein Satz, den sie in diesem Zusammenhang immer wieder hörte. «Dass Frauen früher und heute so viel Gewalt ertragen müssen, die als normal angesehen wird, beschämt mich sehr. Dieses Thema wollte ich in meinem Buch deshalb unbedingt aufnehmen.» Ähnlich wie in ihren beiden bereits erschienenen Büchern Elefanten im Garten (2015) und Fünf Jahreszeiten (2020) schwingen auch in ihrem dritten Roman Themen wie Migration oder der Tod des Vaters mit; die Icherzählerin scheint dieselbe zu sein wie in den anderen beiden Romanen. Trotz der Parallelen betont Meral Kureyshi, dass sie nicht autobiografisch schreibt: «Mich interessiert vieles – nicht nur meine Geschichte oder meine Person», sagt sie und fügt nach einer kurzen Pause an: «Ich erschaffe Situationen, die ich spannend finde. Die Wahrheit interessiert mich nicht besonders, sondern die Geschichte rundherum.»