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Porträt / Für Anzeiger Bern - 07.09.2024

Die Pioniere der Alters-WG

Vor über 20 Jahren verwirklichten Seniorinnen und Senioren im Berner Altenbergquartier ihre Vision einer gemeinschaftlichen Wohnform im Alter. Heute berichten sie von ihrem Zusammenleben und blicken in die noch ungewisse Zukunft.

Ein Springbrunnen plätschert leise, Bienen summen und Spatzen zwitschern im grossen Feigenbaum. Im Stall gackert friedlich ein Huhn. Der Garten des Stürlerhauses im Berner Altenbergquartier ist ein verstecktes Paradies. An diesem Spätsommertag sitzen Pia Sieber (82) und Ruth Falb (87) am grossen Steintisch und trinken Kaffee. Seit 22 Jahren wohnen sie in diesem denkmalgeschützten Haus, gemeinsam mit sieben Mitbewohnerinnen und -bewohnern. Die Idee zur Alters-Wohngemeinschaft entstand Mitte der 90er-Jahre. Die ursprünglich grössere Gruppe entwickelte damals mit viel Elan frische Konzepte zu alternativen Wohnformen in der dritten Lebensphase. Gemeinsam statt einsam, lautete ihre Devise: «Wir waren fest entschlossen, einen Ort zu schaffen, an dem wir möglichst lange unabhängig und dennoch in Verbindung mit anderen Menschen leben können», erklärt Pia Sieber.

Eine Vision wird Wirklichkeit

01 Pia Sieber Ruth Falb Bern Alterswohngemeinschaft

Damals war die Idee einer Alterswohngemeinschaft noch weitgehend unbekannt und unerprobt. «Für uns war es ein Experiment, denn WGs kannte man nur aus dem Studentenleben, aber im Alter hat man andere Bedürfnisse», erzählt sich Ruth Falb. Es folgten zahlreiche Treffen, in denen Wünsche und Vorstellungen besprochen wurden, während man gemeinsam nach einer geeigneten Immobilie suchte. Schliesslich bot sich die Gelegenheit, das 1659 erbaute Stürlerhaus am Berner Altenberg zu erwerben. Das Haus, ehemals im Besitz der Familie von Stürler, war ursprünglich ein Winzerhaus und wurde später von den Diakonissen als Spital und Ausbildungsstätte benutzt. Als die Umsetzung des Projekts konkreter wurde, waren zehn Personen aus der Gruppe bereit, die Vision umzusetzen. Sie alle verfügten über die nötigen finanziellen Mittel und gründeten für den Hauskauf eine Genossenschaft. «Danach mussten wir in Zusammenarbeit mit Architekten und dem Denkmalschutz unzählige Entscheidungen über Umbau, Einrichtung oder Gartengestaltung treffen. Bis ins kleinste Detail wurde alles basisdemokratisch entschieden», erinnert sich Pia Sieber und ergänzt: «Das war manchmal sehr anstrengend, aber wir haben viel dabei gelernt.»

Konflikte und klare Kommunikation

Nach einer intensiven Planungs- und Umbauphase war das Haus bereit für den Einzug. Entstanden ist eine grosszügige WG: Vier 2-Zimmer Wohnungen, zwei Studios im Dachgeschoss und eine weitere Wohnung im ehemaligen Waschhaus. Jede Einheit verfügt über eine eigene Küche und ein Badezimmer. Zusätzlich wurde ein gemeinsamer Bereich mit Küche, Ess- und Wohnzimmer sowie einem Büro eingerichtet.

Anfangs gab es hin und wieder Konflikte, aber wir haben gelernt, Probleme sofort anzusprechen, sowohl bilateral als auch in der Gruppe

Pia Sieber

Das Zusammenleben jedoch war nicht immer leicht: «Anfangs gab es hin und wieder Konflikte, aber wir haben gelernt, Probleme sofort anzusprechen, sowohl bilateral als auch in der Gruppe», erzählt Pia Sieber. Spannungen sind mittlerweile seltener. Doch das bedeutet nicht, dass alle immer einer Meinung sind. Ihre Gemeinschaft funktioniert dank einer guter Gesprächskultur. Alle zwei Wochen treffen sich die Bewohnerinnen und Bewohner zu einer Sitzung mit anschliessendem Abendessen und am Sonntag ungezwungen zum Brunch. Ein grosses Haus mit Garten bedeutet auch viel Arbeit, die untereinander aufgeteilt wird: «Wir haben Ämtli verteilt sowie Arbeitsgruppen gebildet, um anstehende Reparaturen, Neuanschaffungen oder finanzielle Angelegenheiten zu regeln», erklärt Pia Sieber.

Blick in die Zukunft

Ein Spatz nähert sich dem Tisch, auf der Suche nach Brotkrümeln. «Schau mal, wie dick der ist», bemerkt Ruth Falb und Pia Sieber fügt lachend hinzu: «Kein Wunder, die fressen doch das ganze Hühnerfutter!» Die beiden Frauen lachen vergnügt und räumen ihr Geschirr in die Küche. Mittlerweile beträgt das Durchschnittsalter in der WG 80 Jahre. Während die Bewohnerinnen und Bewohner die anfallenden Arbeiten im Gemeinschaftsbereich bisher grösstenteils selbst bewältigen konnten, wird die Unterstützung für Haus und Garten zunehmend wichtiger. Zwischen den hohen Decken, den dicken Sandsteinmauern und dem Berner Parkett nimmt eine Frage immer mehr Raum ein: Wie geht es weiter mit dem Stürlerhaus? Eine endgültige Antwort gibt es noch nicht. Aufhören ist jedoch keine Option, denn die Gruppe ist stolz auf ihre Wohnform: «Wir haben hier eine gute Mischung aus Freiheit und Verantwortung für das Haus und die Gemeinschaft», fasst Ruth Falb zusammen.