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Reportage / Für das Magazin "Gesundheit Emmental" - 15.01.2023

Der tägliche Schmerz

Wenn Schmerzen an der Tageordnung sind, braucht es oft mehr als Medikamente. Die Mitarbeitenden der Spitex Region Emmental wissen, was Klient:innen mit einer komplexen Schmerzsituation zu Linderung und mehr Lebensqualität verhilft.

Ein sonniger Morgen im idyllischen Dorf Signau im hinteren Emmental. Marianne Lehmann* sitzt etwas gebeugt an ihrem grossen runden Tisch in der Stube. Hinter ihr steht Rebekka Bryner, Pflegefachfrau bei der Spitex Region Emmental. Sie reinigt sanft den Rücken ihrer Klientin und klebt anschliessend ein Pflaster auf die Haut. «Dieses gibt den Wirkstoff Fentanyl ab, ein Opioid haltiges Schmerzmittel», erklärt die Pflegefachfrau. Normalerweise werde ein so starkes Schmerzpflaster alle drei Tage ausgewechselt, bei Marianne Lehmann jedoch jeden Tag – sonst werden die Schmerzen zu stark.

Ein Leben geprägt vom Schmerz

Rebekka Bryner, Pflegefachfrau bei der Spitex Region Emmental
Rebekka Bryner, Pflegefachfrau bei der Spitex Region Emmental

Die 73-jährige leidet an einem chronischen Schmerzsyndrom. Seit ihrer Kindheit ist der Schmerz ihr ständiger Begleiter. Als Säugling leidet sie unter Rachitis, später an einer Wachstumsstörung der Wirbelsäule. In der vierten Klasse rutscht sie auf der vereisten Strasse unglücklich aus und fällt auf den Rücken. «Vier lange Wochen verbrachte ich damals im Inselspital und von da an gingen die Schmerzen nie mehr weg», erinnert sich Marianne Lehmann. Fortan gehören Schmerztabletten und Entzündungshemmer zu ihrem Alltag. Mit 21 Jahren heiratet Marianne, zieht auf den Bauernhof ihres Mannes und bekommt drei Töchter. Das Leben ist streng, die tägliche Arbeit mit den Kindern und dem Hof setzt ihrem Körper weiter zu. «Aber damals hatte ich noch die Kraft», sagt sie bestimmt. Zwölf Mal wurde Marianne Lehmann in den darauffolgenden Jahren am Rücken operiert. Angefangen hat es mit einem Bandscheibenvorfall Ende zwanzig, es folgen mehrere Operationen zur Versteifung der Wirbelsäule. «Mein Rücken ist voller Stangen und Schrauben», sagt Marianne Lehmann. Als es ihr endlich etwas besser geht, wird sie in einen Autounfall verwickelt. Eine der Stangen im Rücken bricht, es folgen wieder Operationen und lange Spitalaufenthalte. «Diese letzten Operationen waren für mich die schlimmsten – einerseits von den Schmerzen her, aber auch, weil sie nicht nötig gewesen wären, wenn dieser Wagen nicht in unseren gefahren wäre», sagt Marianne Lehmann. Während sie erzählt, schweift ihr Blick immer wieder nachdenklich zum Fenster hinaus, wo der Kirchturm in den Himmel ragt.

Die Psyche leidet mit

Neugierig beobachtet Marianne Lehmanns Katze Rebekka Bryner bei ihrer Arbeit.
Neugierig beobachtet Marianne Lehmanns Katze Rebekka Bryner bei ihrer Arbeit.

Die beiden Frauen haben mittlerweile vom Esstisch in den Wohnbereich gewechselt. Marianne Lehmann sitzt in einem bequemen Sessel und hält ihre Katze auf dem Schoss. Rebekka Bryner sitzt vor ihr auf einem Stuhl und massiert die Füsse ihrer Klientin. «Wir machen täglich Bewegungsübungen mit den Füssen und Beinen, dadurch wird die Beweglichkeit der Gelenke erhalten und die Durchblutung wird angeregt», erklärt die Pflegefachfrau. Marianne Lehmann lehnt sich zurück und ist sichtlich entspannt. Der tägliche Moment der Bewegungen und Berührungen wirkt sich auch positiv auf die angeschlagene Psyche der Klientin aus: «Wir nehmen uns Zeit, sind da, schauen hin und hören zu. Bei Bedarf können wir sie auch beraten und unterstützen, dadurch geben wir ihr Sicherheit», sagt Rebekka Bryner. Denn sie weiss: Nicht nur der Körper von Marianne Lehmann leidet, auch nervlich ist sie angeschlagen. Manchmal leide sie an Angstzuständen und Depressionen, wie sie selber sagt: «Manche Tage sind schwieriger, andere besser – aber die dunklen Gedanken kommen immer wieder.» Mehrmals war Marianne Lehmann deswegen bereits in der Psychiatrie. Regelmässig erhält sie auch Besuch von Mitarbeitenden der Psychiatrie-Spitex der Spitex Region Emmental. Diese sprechen mit ihr über ihre Ängste und unterstützen sie dabei, die belastenden Gefühle aufzuarbeiten. Plötzlich springt die Katze mit einem Satz auf den Boden und schleicht davon. Marianne Lehmann lacht: «So ein freches Ding.» Trotz allem hat sie ihren Humor nicht ganz verloren. Rebekka Bryner streift ihrer Klientin noch die Kompressionsstrümpfe über die Beine. Dann verabschieden sich die beiden Frauen herzlich. Marianne Lehmann widmet sich in ihrem Sessel zufrieden ihrer Handarbeit und Rebekka Bryner verlässt das Haus – im Wissen, ihrer Klientin an diesem Morgen nicht nur die Schmerzen ein Stück gelindert, sondern ihr auch etwas Lebensqualität gebracht zu haben.

*Name geändert