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Artikel / Für Tamedia - 27.10.2023

Rente? Mind the Gap!

Warum handhaben Männer und Frauen das Thema Altersvorsorge unterschiedlich? Und welche Rolle spielt dabei die Vorsorgelücke zwischen den Geschlechtern? Wir haben nachgefragt und ordnen ein.

Stephanie (34) ist Ergotherapeutin, wohnt mit ihrem Partner und ihren zwei kleinen Kindern in einer Mietwohnung und arbeitet 60 Prozent. Christoph (36) hat keine Kinder, er arbeitet in einem 90-Prozent-Pensum als Anwalt. Stephanie und Christoph kennen sich nicht und haben auch nicht viel gemeinsam. Dennoch gibt es eine bedeutende Parallele, denn beide haben sich Mitte 20 erstmalig mit dem Thema Altersvorsorge auseinandergesetzt. Stephanie begann sich nach ihrem Hochschulabschluss damit zu befassen, Christoph nach seiner Zulassung als Anwalt. Nach Antritt der ersten richtigen Arbeitsstelle, haben beide auf Anraten der Eltern hin ein Säule-3a-Konto eröffnet. Das ist im Vergleich eher früh: «Männer beschäftigen sich durchschnittlich mit Anfang 30, Frauen sogar erst mit Anfang 40 mit dem Thema Altersvorsorge», weiss Martin Eling, Professor für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen, der unter anderem vor zwei Jahren eine Studie zum Thema Frauen und Altersvorsorge veröffentlicht hat. In den folgenden Jahren haben sowohl Stephanie als auch Christoph regelmässig auf das Vorsorgekonto eingezahlt und so rund 50'000 Franken angespart. Ab dieser Summe lohnt sich ein zweites Säule-3a-Konto, um die Altersvorsorge zu optimieren und Steuern zu sparen.

Männer beschäftigen sich durchschnittlich mit Anfang 30, Frauen sogar erst mit Anfang 40 mit dem Thema Altersvorsorge

Martin Eling

Zudem erhöht man die Renditechancen langfristig, wenn Säule-3a-Gelder in Vorsorgefonds investiert werden. Christoph begann, sich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen: Er recherchierte im Internet, tauschte sich mit Kollegen aus und kaufte sich Fachzeitschriften zum Thema Finanzen. Schliesslich entschied er sich dazu, ein Wertschriftenportfolio aufzubauen und über eine Online-Vermögensberatungsfirma zu verwalten, da er dadurch geringere Gebühren im Vergleich zu einer herkömmlichen Bank zahlt. Im Gegensatz dazu liess Stephanie sich für ihr Anlagekonto von ihrer Bank beraten, um nicht zu viel Zeit in die Thematik investieren zu müssen. Dieser Unterschied entspricht dem, was Martin Eling als typisch beschreibt: «Männer interessieren sich in der Regel mehr für Finanzthemen und weisen deshalb im Vergleich zu Frauen ein höheres Wissen aus.» Warum aber lassen sich Frauen nur schwer für Finanzthemen begeistern? Die Gründe dafür sind vielschichtig: «Eine wichtige Rolle spielen traditionelle Rollenbilder, die tief verankert sind», sagt Isabel Martinez, die an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich zu Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung forscht. So haben sich auch Banken und Versicherungen in ihrer Kommunikation lange ausschliesslich an Männer gerichtet. «Obwohl in diesem Bereich Veränderungen sichtbar sind, ist die Welt der Anlagefonds beispielsweise immer noch stark von Männern geprägt», weiss Isabel Martinez.

Die Lücke zwischen den Geschlechtern

Fakt ist: In der Schweiz beträgt die Geschlechter-Altersvorsorgelücke, auch bekannt als Gender Pension Gap, etwa 30 Prozent. Im Vergleich zu unseren Nachbarländern liegt die Schweiz damit im oberen Bereich. Im Jahr 2020 lag sie sogar über dem europäischen Durchschnitt. Einer der Hauptgründe für die finanzielle Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist die Familiengründung. Bei der beruflichen Vorsorge ist die Kluft besonders gross. Knapp 50 Prozent der Rentnerinnen beziehen momentan Beiträge aus der zweiten Säule, bei den Männern sind es rund 70 Prozent. «Der Gender Pension Gap, den wir heute messen, ist wie ein Blick in den Rückspiegel, sozusagen ein Abbild der Erwerbsbiografien der letzten 44 Jahre», sagt Isabel Martinez und ergänzt: «Heute sind zwar deutlich mehr Frauen erwerbstätig, dennoch stecken sie nach der Familiengründung beruflich noch immer mehr zurück als Männer.» Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben spielt auch bei jungen Frauen eine entscheidende Rolle bei der Wahl ihres Berufsfeldes und bei der Stellensuche. «Während ein Jus-Absolvent vielleicht in einer Wirtschaftskanzlei beginnt, entscheidet sich seine Kommilitonin möglicherweise eher für eine Stelle beim Kantonsgericht, mit geregelteren Arbeitszeiten», erklärt Isabel Martinez.

Auch wenn das Modell Hausfrau mehrheitlich ausgedient hat, schliesst sich der Gender Pension Gap nur sehr langsam.

Isabel Martinez

Junge Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit häufiger als ihre Partner und arbeiten vermehrt in Teilzeit. Gemäss Bundesamt für Statistik geht nur einer von fünf erwerbstätigen Männern einer Teilzeitarbeit nach; während bei den Frauen dies bei drei von fünf der Fall ist. Die institutionellen Rahmenbedingungen in der beruflichen Vorsorge verstärken den Gender Pension Gap, da sie Teilzeitpensen generell unzureichend berücksichtigen. So erreichen teilzeiterarbeitende Personen oft nicht die Eintrittsschwelle für die Pensionskasse. «Auch wenn das Modell Hausfrau mehrheitlich ausgedient hat, schliesst sich der Gender Pension Gap nur sehr langsam und wird deshalb auch in 30 Jahren noch ein Thema sein», sagt Isabel Martinez.

Der Blick in die Vorsorge-Zukunft

Um die Vorsorgelücke zwischen den Geschlechtern zu schliessen, gibt es unterschiedliche Ansätze. Einerseits müssen beide Geschlechter mehr auf die vorhandenen Rollenbilder und die damit einhergehende Problematik punkto Altersvorsorge sensibilisiert werden. Paare sollten sich eingehender damit auseinandersetzen, wie eine faire Aufteilung funktioniert. «Frauen müssen mehr Eigenverantwortung übernehmen und Männer ihre Vorsorge-Mitverantwortung gegenüber ihrer Partnerin wahrnehmen», sagt Isabel Martinez. Aber auch Unternehmen und Staat können die Hebel anders setzen. Die Eintrittsschwelle für die berufliche Vorsorge könnte abgeschafft werden und es müssten Möglichkeiten geschaffen werden, um Lücken in der Säule 3a aufgrund von Auszeiten nachfinanzieren zu können. «Das Schweizer Vorsorgesystem ist in vielen Aspekten immer noch auf das traditionelle Familienbild ausgerichtet. Obwohl es einen Vorsorgeausgleich bei Scheidungen gibt, fehlt dieser in der Regel bei Konkubinaten, was nicht der gesellschaftlichen Entwicklung entspricht», betont Martin Eling und fügt hinzu: «Übrigens ist es bemerkenswert, dass sich Männer und Frauen in der Schweiz einig sind, dass punkto Altersvorsorge ein Reformbedarf besteht.»