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Porträt / Für die Tamedia-Saisonbeilage Winter Für die Tamedia-Sonderbeilage Winter - 12.11.2021

Marroni für immer

Seit bald fünfzig Jahren verkauft Fritz Bleuer jeden Winter heisse Marroni. In seinem Häuschen auf dem Bärenplatz ist er nicht nur Verkäufer, sondern gleichzeitig auch Zeitzeuge, Kummerkasten und lebende Legende.

«Wenn nichts dazwischenkommt, stehe ich auch in zehn Jahren noch hier im Marronistand», sagt Fritz Bleuer.
«Wenn nichts dazwischenkommt, stehe ich auch in zehn Jahren noch hier im Marronistand», sagt Fritz Bleuer.

Es ist kalt an diesem Mittwochmorgen und der Nebel hängt über der Stadt. Fritz Bleuer steht in seinem schwarzen Overall hinter der grossen Eisenpfanne. Mit der einen Hand hebt er den schweren Deckel, mit der anderen rührt er die knisternden Marroni um. Sofort verteilt sich der süsslich duftende Rauch und ein paar Leute bleiben stehen, um neugierig zuzuschauen. Sobald Fritz Bleuer sich seinen Marroni widmet, zieht er alle Blicke auf sich. «Das bin ich mir gewohnt», sagt er achselzuckend und macht einige Wolldecken bereit, in die er die Marroni später einwickelt, damit sie schön warm bleiben. Tatsächlich ist der 69-jährige eine kleine Berühmtheit: Von diversen Lokalzeitungen und regionalen Radiosendern bis hin zum nationalen Fernsehen haben alle irgendwann schon einmal über den Marroni-Verkäufer vom Bärenplatz berichtet. Die Geschichte begann Anfang der 70iger Jahre, als der junge Fritz während ein paar Wochen als Ferienvertretung für das Familienunternehmen Maletti Früchte und Gemüse auslieferte.

Der Chef – in dessen Besitz auch der Marronistand am Bärenplatz war – sah sofort, dass Fritz anpacken kann. «Er fragte mich, ob ich nicht für immer bei ihm arbeiten wolle, ich sagte spontan ja und das Arbeitsverhältnis wurde mit einem festen Handschlag besiegelt.» Dass aus «für immer» dann tatsächlich so viele Jahre werden sollten, hätte Fritz Bleuer damals natürlich nicht gedacht. Klar, zwischendurch hat er auch andere Jobs gemacht und während den Sommermonaten ist der eigentlich bereits Pensionierte noch immer als Audio- und Videotechniker beim Filmfestival von Locarno tätig. Mit einem Fuss aber ist Fritz Bleuer über all die Jahre immer im Marronihaus geblieben. Auch als sein Mentor, Maletti-Senior starb, und der Sohn das Geschäft übernahm, blieb Fritz Bleuer dem Unternehmen und dem kleinen Holzhaus vor dem Käfigturm treu.

Marroni im Wandel der Zeit

Goldbraun und süsslich duftend: Die Marroni von Fritz Bleuer kommen dieses Jahr unter anderem aus Viterbo, einer Region nördlich von Rom.
Goldbraun und süsslich duftend: Die Marroni von Fritz Bleuer kommen dieses Jahr unter anderem aus Viterbo, einer Region nördlich von Rom.

Von dort aus hat er beobachtet, wie sich die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner über die Jahre hinweg verändert haben: «Früher hielten sich die Menschen noch viel mehr an fixe Essenszeiten und kauften heissi Marroni vor allem zum Zvieri», erzählt er. Damals gab es ausser Marroni auch noch fast keine anderen Lebensmittel, die man auf der Strasse kaufen konnte. «Im Stehen oder gar Gehen zu essen, war verpönt», erinnert sich der gebürtige Berner. In den 90iger Jahren kamen dann Take-Away-Läden auf und mit ihnen wurde auch die Konkurrenz grösser: «Heute beisst fast jeder, der an meinem Stand vorbeigeht, in ein Sandwich oder in ein Stück Pizza, ganz egal um welche Zeit.» Auch der Bärenplatz und die Innenstadt rund um den Marronistand befinden sich in einem stetigen Wandel. Restaurants und Läden kamen und gingen, die grosse Post ging auf und dann wieder zu, schliesslich wurde ein Kino nach dem anderen geschlossen. «Mittlerweile ist die Innenstadt nach Ladenschluss wie ausgestorben, das war früher anders», sagt Fritz Bleuer. Veränderung macht ihm aber keine Angst, im Gegenteil. Veränderung gehöre zum Leben und sei notwendig, um Neuem Platz zu machen, findet er. Die Öffnungszeiten des Verkaufsstands wurden ganz einfach immer wieder den neuen Gegebenheiten angepasst. Das Geschäft mit den Edelkastanien hängt aber auch von anderen Faktoren ab, wie etwa dem Wetter oder der Jahreszeit.

Wenn mich im Februar jemand fragt wie lange ich noch da bin, dann weiss ich genau, dass mit dieser Frage eigentlich gemeint ist: Wann fängt endlich der Frühling an?

Im Herbst verkauft Fritz Bleuer in der Regel am meisten, dieses Jahr läuft es «dank» Corona sogar besonders gut: «Es kommen viele Schweizer Tagestouristen nach Bern, die in den Herbstferien wahrscheinlich sonst auf irgendeine Insel fliegen», meint Fritz Bleuer während er auf der alten Waage 200g Marroni in eine braune Papiertüte abfüllt. Gegen Ende der Saison hingegen läuft das Geschäft dann oft etwas schleppend, weil die Leute keine grosse Lust mehr auf Marroni haben. «Wenn mich im Februar jemand fragt wie lange ich noch da bin, dann weiss ich genau, dass mit dieser Frage eigentlich gemeint ist: Wann fängt endlich der Frühling an?»

Verkäufer, Touristeninformation und Kummerkasten

Es gibt aber auch Dinge, die sich in all den Jahren nicht verändert haben. Zum Beispiel, dass Frauen generell mehr Marroni kaufen als Männer, «weil sie sich bewusster ernähren», mutmasst Fritz Bleuer. Auch Kinder mögen Marroni immer noch genauso wie früher. «Sie stehen auf die Holzkiste vor dem Stand, bezahlen stolz mit ein paar Münzen und laufen dann knisternd und schmatzend mit ihren Eltern davon», erzählt Fritz Bleuer, der im letzten Jahr Grossvater geworden ist. Ab und zu kommt auch mal jemand, der herummotzt. «Jede Tag hesch ä Gigu z guet», pflege er sich dann jeweils zu sagen. Als Marronimann sei man halt auch eine öffentliche Institution. «Ich bin nicht nur Verkäufer, sondern auch noch Touristeninformation und Kummerkasten.» Tatsächlich fragt nur einige Minuten später eine Frau auf Englisch nach dem Weg zum Bahnhof, Fritz winkt mit seiner Holzkelle in Richtung Spitalgasse und gibt freundlich Auskunft. Viele Menschen kämen auch zum Reden zu ihm und erzählen von Eheproblemen oder von ihren Krankheiten. «Ein Mann sprach mit mir einmal über seine schlimme Scheidung und kam ein paar Jahre später wieder vorbei, um mir seine neue Freundin vorzustellen», erinnert sich Fritz Bleuer. Manchmal kommen auch Politiker oder Alt-Bundesräte beim Marronistand vorbei. So zum Beispiel auch Arnold Koller, der vor zwei Jahren 100g Marroni kaufte und beim Abschied etwas wehmütig zu Fritz Bleuer sagte: «Seit ich das letzte Mal in Bern war, ist alles anders geworden – aber dir sit immer no da.» Auch nicht verändert hat sich Fritz Bleuers Liebe zu den Edelkastanien. Während der Saison esse er mindestens 100g Marroni pro Tag erzählt er und gerät bei diesem Thema regelrecht ins Schwärmen. «Marroni sind fein und gesund, sie haben viel Vitamin C und ausserdem waren sie schon glutenfrei, als die Leute noch nicht mal wussten, was das ist.»